Die Geschichte eines erwachten Bewusstseins (Ein Beitrag von Jürgen Kraft, Philosoph)
„Statt die Politiker, den Staat und die Superreichen zu beschimpfen und zu kritisieren, fang erst einmal bei Dir selber an!“
Das höre ich andauernd. Und mein ganzes bisheriges Leben lang habe ich das bis vor kurzem tatsächlich auch für vollkommen richtig gehalten und auch danach gelebt. Tatsächlich habe ich alles getan, was in meiner Macht steht. Brav habe ich unsern Müll sortiert und dann ordnungsgemäß entsorgt. Ich habe meine Kinder nur noch zu Fuß zur Schule gebracht. Den großen Kindern habe ich selbst Nachhilfe gegeben, um ihnen bessere Berufsaussichten zu eröffnen. Mein Mann und ich fahren schon lange ein kleines Elektroauto. Ich habe auch bereits drei Fortbildungen gemacht, um in meinem Job fit zu bleiben. Neben meinem Vollzeitjob habe ich noch einen Nebenjob. Auch habe ich meine vormalige Scham überwunden und kaufe für uns nur noch weiße Ware im Superdiscounter ein. Die Kleidung für unsere Familie besorge ich uns nun weitgehend aus dem Second-hand-Laden. Einen ordentlichen Teil des Einkommens von mir und meinem Mann legen wir zurück für die Ausbildung unsrer Kinder und zur Aufstockung unsrer zukünftigen Renten. Auch wähle ich die CDU oder die FDP, um unsere Wirtschaft wieder anzukurbeln, obwohl ich schon sehr früh eigentlich Sympathien für die sozialistischen und ökologischen Parteien hegte. Vor einigen Jahren sind wir auch in eine kleinere und billigere Mietwohnung umgezogen, und das obwohl wir in jener Zeit als Familie noch Zuwachs bekommen hatten.
Und trotzdem kommt unsere Familie –übrigens wie fast alle unsere Nachbarsfamilien auch- finanziell kaum noch über die Runden.
Das alles ist ganz anders als zu der Zeit, als meine Eltern ihre Familie gründeten und mein Vater noch im Berufsleben stand. So erinnere ich mich noch gut und gern daran, dass tatsächlich nur mein Vater einen Vollzeitjob als Arbeiter hatte, mit dem er aber alleine unserer Familie den damals üblichen Lebensstandard finanzieren konnte, der uns jedoch vollauf genügte. So hatten wir beispielsweise ein Auto, mit dem wir jedes Jahr in den Urlaub fuhren. Meine Eltern konnten sich sogar ein Eigenheim finanzieren, das sie an ihrem Lebensende tatsächlich abbezahlt hatten. -Das später freilich futsch war, weil es für deren Pflege draufging! Wir Kinder konnten problemlos zumindest das Gymnasium besuchen und anschließend unsere Ausbildungen machen. Und auch um seine Rente hatte sich mein Vater nie Sorgen gemacht, da sie absolut sicher war.
Und dann stoße ich vor kurzem –ist es Zufall oder nicht?- auf Oxfam-Berichte von 2024 und 2025. Denen zufolge ist das Vermögen der fünf reichsten Deutschen seit 2020 um sage und schreibe 73,85 % gestiegen. Auch gibt es in Deutschland 130 Milliardäre und nach einer anderen Studie sogar 256. Womit Deutschland nach den USA, China und Indien die meisten Milliardäre hat. Und allein 2024 kamen in Deutschland 9 Milliardäre hinzu. Sie alle haben demnach ein Gesamtvermögen von 625,4 Milliarden Dollar.
Noch interessanter freilich fand ich die Verteilung des Vermögens und wie es sich auseinanderentwickelt. Im Besitz von 1 % unserer Bevölkerung befindet sich ein Drittel des Gesamtvermögens an Bargeld, Aktien etc. in Deutschland. Demgegenüber besitzt aber die gesamte ärmere Hälfte der Bevölkerung bloß 1,3 %.
Trotzdem werden in Deutschland nur Grund und Boden sowie Erbschaften besteuert, nicht aber Vermögen.
Seither denke ich, dass auch meine Familie und all die anderen vergleichbaren Familien zumindest im Prinzip noch genauso leben könnten wie unsere Elterngeneration. Denn es ist ja eigentlich genug da für alle, es werden genug Dinge produziert. Ja, sogar viel mehr als damals. Und manche von ihnen scheinen mir sogar absolut überflüssig zu sein.
Das Problem ist demnach einzig die Verteilung und eine wirklich gerechte Besteuerung. So könnte man mit der erreichten Produktivität und dem volkswirtschaftlich Geschaffenen ja wirklich existenzsichernde Löhne für alle Arbeitenden finanzieren, für eine wirklich funktionierende Infrastruktur sorgen, angefangen beim günstigen öffentlichen Verkehr über ein gut organisiertes und ausgestattetes Bildungssystem vom Kindergarten bis zur Uni und über eine gute Gesundheitsversorgung bis hin zu Renten, die nicht in die Altersarmut führen.
Und deshalb frage ich mich seither: Warum soll bzw. muß ich penibel den Müll sortieren und entsorgen, wenn die Politik doch ganz einfach der Lebensmittel-Industrie vorschreiben könnte, wiederverwendbare Verpackungen anzubieten und so die Müllentsorgung stark reduzieren? Warum soll bzw. muß ich meine Kinder selbst bei den Hausaufgaben betreuen und ihnen nötigenfalls Nachhilfe geben, wenn die Politik doch ganz einfach dafür sorgen könnte, daß Kindergarten und Schule allen Kindern dieselben Bildungschancen gewährleisten könnten und so auch diejenigen mitnehmen, die schlechtere Startbedingungen haben? Warum soll bzw. muß ich überhaupt ein eigenes Auto haben und meinen Kleinen selbst zum Kindergarten bringen, wenn die Politik doch ganz einfach den Menschen ein gut organisiertes und sehr günstiges öffentliches Verkehrsangebot machen könnte und damit auch noch die Umwelt und die Natur schonen würde? Warum soll bzw. muß ich mit meiner Familie in eine eigentlich für uns zu kleine Mietwohnung ziehen, wenn die Politik doch ganz einfach wieder viel mehr Sozialwohnungen bauen könnte? Warum soll bzw. muß ich anstelle gesunder Lebensmittel ausm Bioladen ungesunde industrielle Lebensmittel kaufen, wenn die Politik doch ganz einfach einen Mindestlohn festlegen könnte, mit dem sich jede das leisten könnte? Und wenn sie auch noch eine andere Agrarpolitik machen würde? Warum soll bzw. muß ich nicht nur zusätzlich zu meinem Mann arbeiten, sondern sogar noch einen Zweitjob annehmen, wenn die Politik doch ganz einfach die Mindestlöhne gesetzlich so hoch ansetzen könnte, daß sie jedem/r Arbeitnehmer/in eine Existenz sichert, die nicht in die Armut führt? Warum sollen bzw. müssen ich und mein Mann uns selbst um unsere künftige Rentnerexistenz kümmern und sie finanzieren, wenn die Politik doch ganz einfach für eine gerechte, solidarische Rentenfinanzierung sorgen könnte?
Warum also soll bzw. muß ich all das tun und erleiden, wenn die Politik doch ganz einfach die eigentliche Zweckbestimmung oder Aufgabe des Staates, den Schutz der Schwachen vor den Starken, wahrnehmen würde und die Daseinsvorsorge tatsächlich garantieren und praktizieren würde? Warum soll bzw. muß ich all das tun und erleiden, wenn die Politik doch ganz einfach für mehr Gerechtigkeit in der Gesellschaft sorgen könnte, indem sie diejenigen, die in unserer Gesellschaft wesentlich mehr Einkommen beziehen und sehr hohe Vermögen anhäufen und noch stets vermehren, für die Gesamtgesellschaft auch relativ viel mehr abgeben müssen, indem die Politik ganz einfach die Besteuerung der Superreichen wieder gerechter machen könnte. Und damit all das finanzieren könnte, woran es derzeit fehlt?
Das alles ist doch letztlich bloß eine Frage einer klugen und menschenfreundlichen Politik.
Deshalb denke ich neuerdings: Die Aufforderung „Wer die Eliten kritisiert, der soll oder muß erst einmal bei sich selbst anfangen!“ ist absoluter Quatsch! Sie ist für unser Establishment ein wirklich herrlich vorteilhaftes Märchen. Ich kann es nicht mehr hören! Nein, von dieser Aufforderung lass‘ ich mich nicht mehr länger verblöden und verarschen!
Die Geschichten von Jürgen Kraft mag ich ja. Aber diese Geschichte offenbart wohl eine sehr kindliche Sicht auf die Welt. Sie hat ein Gschmäckle von „Früher war alles besser“ und „die Regierung ist zu dumm“ , und „warum soll ich meinen Müll trennen, wenn die Inder alles ins Meer schmeissen“ und „ wir sollen das Geld das wir den Ukrainern für Bomben geben lieber im eigenen Land verteilen.“
Die Wahrheit ist dass die Menschen zwar ein Hirn und scheinbar auch eine Seele haben… aber letztendlich sind sie auch Lebewesen die den Naturgesetzen unterworfen sind. Und der Mensch ist kein gerechtes Wesen, sondern es gilt das Recht des Stärkeren. Es geht ihm nicht um Gerechtigkeit sondern um Vorteil, um Geld, Besitz und Macht. Und je mehr er davon hat um so mehr will er noch haben.
Okay es gibt ein paar friedliche Wesen, die geben statt nehmen, helfen statt prügeln, oder singen statt boxen aber die sind in der Minderzahl. Bei der Hippie Bewegung in den 60er Jahren waren es noch viel mehr, aber eine friedlichere Welt ist daraus auch nicht geworden.
Also was ist die Lösung? Soll der Staat dafür sorgen dass alles gerecht verteilt wird? Und daß die Politik über Steuern regelt wohin das Geld das erwirtschaftet und erarbeitet wird fliesst? Ob lieber die Mindestlöhne und die Rente höher werden und die Mieten billiger? Also Sozialismus? Das hatten wir ja schon und es hat nicht funktioniert.
Oder soll die Politik regeln was die Bürger kaufen sollen? Keine Plastikverpackungen, keine Flugtickets, kein Fleisch aus Massentierhaltung, keine modische Kleidung die jedes Jahr neu gekauft wird? Weil sich dann der Markt nach Angebot und Nachfrage selbst regelt? Solche Politiker würden nie gewählt werden.
Also was jetzt? Ist ein „erwachtes Bewusstsein“ dass man doch lieber auf die Politik schimpft als bei sich selber anzufangen?
Ich z.B. habs nicht bereut daß ich bei mir selber angefangen hab. Ich hab einfach meinen Frieden und meinen Platz gefunden, hab mich angepasst, bin zwar nicht reich geworden, konnte mir nie ein neues Auto oder ein Haus kaufen und bin jetzt ein alter Sack mit einigen Zipperleins, aber ich war dankbar für alles, bin über die Runden gekommen hab tolle friedliche Menschen kennengelernt , hab eine tolle Familie… und hab Spaß gehabt … und den hab ich jetzt immer noch.
Schlusswort: Was passiert das passiert. Nenne es Schicksal, oder göttliche Vorsehung, egal, aber der Mensch hat auch einen freien Willen, er kann kämpfen oder sich anpassen..
Und noch mein Lieblingswitz: Treffen sich zwei Planeten im Weltall,
Planet 1: „Na wie geht’s?“
Planet 2: „Nicht so gut grad, ich hab Menschen.“
Planet 1: „Ach Menschen. Ja die hatt ich auch mal , keine Sorge, die verschwinden wieder…“
Planet 2: „Na dann.. tschüss bis zum nächsten mal…“
Kleiner Tipp: Jürgen ist am 8. November (Samstag) wieder ab 11 Uhr in der Stadtbücherei Biberach zur Diskussion und zum Austausch….;-)