Heute: 18. Okt., 2025

Über die Unfähigkeit, zuzuhören

Wörterschwall (KI)
von
vor 23 Stunden

Ein Essay von Jürgen Kraft (Philosoph)

In den letzten Jahren widerfährt es mir immer häufiger, dass ein Gesprächspartner unfähig ist, zuzuhören. Man fängt also an, irgendein Thema zu besprechen. Und schon bald packt mein Gegenüber seine Sätze so dicht aneinander, dass es keine noch so kleine Lücke mehr lässt, in der man auf rücksichtsvolle Art verbal darauf reagieren könnte.

 Ganz selten ärgert mich dies dermaßen, dass ich dann einfach reingrätsche. Aber in den allermeisten Fällen deprimiert mich dieses Verhalten derart, dass ich gelangweilt völlig passiv werde. Und oft schweifen meine Gedanken dann ab. Irgendwann stelle ich mir dann immer wieder mal die Frage: Warum eigentlich kann mir mein Gegenüber denn nicht zuhören?

Und eine eindeutige und endgültige Antwort darauf habe ich noch nicht gefunden, aber eine Reihe möglicher Erklärungen.

A.) Ist es, weil mein Gegenüber ein Narzisst ist und nur seinen Größenwahn mit dem für ihn typischen Mangel an Empathie, also Einfühlungsvermögen in den Andern, ungehemmt auslebt? 

 -Ist mein Gegenüber von seinen eigenen weltanschaulichen Ansichten so übersteigert überzeugt, dass es in einer völlig distanzlosen Emotionalität und Spontaneität deren vermeinte Bedeutung und Wichtigkeit um jeden Preis ausdrücken zu müssen meint? Wobei es eigentlich für es selbst schön ist, für seine Überzeugung derart engagiert einzutreten, in seiner Maßlosigkeit aber für den Andern kaum zu ertragen.

-Oder ist mein Gegenüber völlig schuldlos an dieser vermeinten Taktlosigkeit, weil  es bloß ein bedauernswertes Opfer unseres technologischen Zeitgeists ist? Ist es durch seinen exzessiven Konsum von sozialen Medien womöglich so sehr gewöhnt, in jedem Augenblick als ein ewiger Sender wie am Fließband jeden ihm gerade in den Sinn gekommenen und noch so belanglosen, banalen Standpunkt hinauszuposaunen, dem die Anderen gefälligst ständig zu folgen haben?

-Ist es, weil das dauerredende Gegenüber eben aufgrund seiner Überzeugung von der Bedeutung und Wichtigkeit seiner Mitteilungen bzw. Anschauungen subjektiv absolut selbstgewiss den Zwang verspürt, den Andern von seiner Ansicht überzeugen zu müssen, ihn zu seiner Ansicht bekehren zu müssen? Zu dessen Bestem selbstverständlich! Ist es am Ende also nur, weil das Gegenüber mich für einen Uninformierten oder gar Bornierten, Unreflektierten hält, das es informieren, bilden und aufklären muss? 

B.) Hat mein Gegenüber also offensichtlich zwar einen egozentrischen Größenwahn, mit dem es aber ganz im Gegenteil bloß seinen ausgeprägten Minderwertigkeitskomplex zu überspielen versucht? Ist seine vordergründige Großmäuligkeit bloß der Versuch, seine empfundene Unterlegenheit durch Überkompensation zu vertuschen?

-Hat mein Gegenüber in Wirklichkeit also sogar einen Minderwertigkeitskomplex, nämlich die Angst, dass ich, der Andere, in möglichen Gesprächspausen ihm widersprechen und seine festgefügten Ansichten damit erschüttern könnte? Und damit die gefühlte eigene Unterlegenheit bestätigen. Erträgt es also bloß keine Gegenrede, die seine insgeheime Unsicherheit und sein fehlendes Selbstwertgefühl nicht aushalten würde und nicht ertragen könnte?   

-Will das Gegenüber mit seinem Dauerreden und –mitteilen seiner Weltsicht dem Andern, von dem es befürchtet, dieser könnte es für einen Dummen oder Einfältigen halten, bloß signalisieren, dass es durchaus intellektuell anspruchsvoll und reflektiert ist?

C.) Oder verhält es sich ganz einfach so, weil es in seinem Alltagsleben als Alleinseiendes viel zu wenig zwischenmenschliche Beziehungen und Kontakte hat und von daher niemanden, der ihm endlich mal zuhört, so dass es, sobald es einmal die Möglichkeit hat, sich einem Andern mitteilen zu können und damit eine Zuhörerschaft zu haben, in einem Schwall das an- und aufgestaute Gesprächsbedürfnis endlich befriedigen kann?  

Am Ende jedoch tröste ich mich angesichts solch einer erlittenen Unfähigkeit meiner Mitmenschen, zuzuhören, meistens damit, dass ich mir sage: „Viel mehr als mir schaden sie sich ja selbst, insofern sie sich der Chance berauben, etwas Anderes oder womöglich sogar Neues zu hören bzw. zu erfahren.“

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